Hyperweird Kids | Laura Klünter und Mario Mertgen
Fictions of Progress | Julia Stellmann
hyperweirdkids
Der Fuß ist in Ketten gelegt, schwarz-weiß auf vielfarbigem Grund. Was der Natur entsprach, löst sich in Pixel auf, tritt Flora, Fauna platt, tut seine Stellung kund. Knöchel, Zehen sind errötet als wären sie beschämt, wenn bunte Flügel nicht mehr fliegen, Blumen Blütenblätter weinen, bis grüne Farbe die Sohle von unten her bemoost. Wie geht Fortschritt mit angelegter Fessel? Löst sich Metall, sobald es sich statt über Haut um Pixel legt?
Durch Zeiten, Realitäten und Fiktionen fallen die Figuren in digital collagierten Gemälden der hyperweirdkids Laura Klünter und Mario Mertgen. „Fictions of Progress“ versetzt fast altmeisterlich gemalte Körper gleich Zeitreisenden in eine neue Welt, holt das traditionsbeladene Medium in die Gegenwart, spiegelt eine geschichtete Realität. Ein Jetzt, das sich in medialer Überfülle, permanenter Gleichzeitigkeit ergeht und das suchende Ich zur ständigen Neupositionierung in der umgebenden Umwelt zwingt. Kaleidoskopisch angelegte Versatzstücke, die aus Bildarchiven zitieren, sich digitaler Werkzeuge bedienen oder mittels KI generiert sind, stehen nicht losgelöst nebeneinander, sondern fügen sich zu einem neuen Narrativ, schaffen ein in sich stimmiges Bild.
Gleich einzelnen Ebenen in Photoshop sitzen die Gemälde auf der Wand, schichten sich wie neue Tabs im Browser, gewähren lichten Einblick durch geöffnete Fenster auf dem Desktop-Hintergrund. Gegenstände wachsen aus den Bildern reliefartig in den Raum, Folien blitzen glitzernd auf, Icons ploppen aus dem Formverbund. Anknüpfend an die Post-Internet-Art bedienen sich die hyperweirdkids digitaler Kulturtechniken, verbleibt ihre Kunst nicht in der digitalen Sphäre, sondern wird zurückgeführt ins Material, in den physischen Raum. Zweidimensionales wird dreidimensional und umgekehrt, sobald die Betrachtenden die Malereien fotografisch ins Digitale zurückführen. Was ist Realität und was Fiktion?
Die Venus zieren Muskelberge, die wie Geschwüre aus der Haut wuchern, den Körper mit Beulen übersät ad absurdum führen. In Szene gesetzt, in Pose gebracht spielen die hyperweirdkids mit Körperidealen, wenn sie – vergleichbar einem überstilisierten Manierismus – groteske Proportionen als digitale Unstimmigkeiten mittels KI generieren. Ins Heute übersetzt lassen sich die Figuren mit Influencern vergleichen, die sich in den sozialen Medien präsentieren, das Ich bis aufs Äußerste optimieren. Nicht möglich ist es mitzuhalten mit technologischer Neuerung, schnell lässt es sich verzweifeln an scheinbar geforderter Perfektion. So bleibt der ideale Körper heute wie gestern eine Illusion.
Allzu Menschliches, das sich in „Fictions of Progress“ formuliert, wenn die Ausstellung große philosophische Fragen tangiert. Der Mensch geht immer weiter, auch wenn unter ihm das Pferd sich sträubt, sich aufbäumt und den Reiter abzuwerfen droht. Der Finger weist nach vorne, ohne Unterlass. Wo geht er hin, der Weg? Die Umwelt verändert sich, nur der Mensch bleibt gleich, ist fleischliches Relikt in einer neuen Wirklichkeit. Der antiquierte Körper schmückt sich mit den neuen Attributen, krankt an der Welt oder assimiliert sich, wie der rauchende Ritter mit bandagierten Füßen. Was aber, wenn das Feuer, der Ursprung menschlichen Fortschritts, als Pixelstrahlen durch die Lupe fällt, Menschen im Digitalen scheinbar näher zusammenrücken lässt, doch neues Werkzeug die Umwelt in Brand versetzt?
Die Bilder öffnen emanzipatorische Räume, hinterfragen patriarchale Machtverhältnisse, den Menschen als Krone der Schöpfung. Da ist zum Beispiel Leda, die Zeus entgegen der mythologischen Erzählung in Ketten legt, im gezähmten Schwan ein Haustier hat und ihn in Form von kleinen Blitzen als Schmuckstück an den Ohren trägt. Oder Prometheus, der göttliches Feuer stahl, es in einem urdemokratischen Akt der Menschheit brachte, der Göttervater als Inbegriff autoritärer Macht ihn jedoch in Form eines Leber fressenden Adlers jeden Tag aufs Neue strafte. Nicht zuletzt liegt ein moderner Adonis in durchscheinende Pop-up-Fenster gebettet wie in einen Schneewittchensarg, mit Grabbeilagen seines vergangenen Lebens, ist sein Selbstverständnis als Vertreter rückwärtsgewandter Werte erschüttert bis ins Mark.
Es lässt sich beinahe zusehen, wie die Bilder laden, als würden sie zuvor durch luftleere Räume wabern und sich dann finden in diesem einen Augenblick, dann wieder verschwinden, das ewige Vorwärtsdrängen weitergeht. Sie vereinen Dinge, die in ihrer Form changieren, gestaltwandlerisch vibrieren, sich auflösen, bis sie wieder eins sind und sich erst in den Betrachtenden vollends realisieren. Für einen kurzen Moment aber ist der Wandel angehalten, der Fuß in Fesseln stillgelegt. Ist es wirklich endloses Wachstum, das uns nach vorne bringt? Und was, wenn die Antwort hinter Pixeln verborgen liegt?